Wille und Bewusstsein 

Die Lenkungskräfte unseres Lebens – und die Kunst, sie zu verfeinern

Dipl. Psych. Gerd Metz

Stellen Sie sich vor, Sie haben kürzlich über einen längeren Zeitraum eine spezielle Herausforderung gemeistert. Dafür brauchten Sie Fähigkeiten und Kenntnisse, die Sie sich im Laufe Ihres Lebens und evtl. auch durch Fortbildung und Training angeeignet haben.

Sie brauchten darüber hinaus aber auch einen Bewusstseinszustand, eine geistige Verfassung, in der Sie sich gut fokussieren konnten, ohne zu verkrampfen, und in der Ihr Geist geschmeidig und flexibel mit den Besonderheiten der Herausforderung umgehen konnte. Zweitens brauchten Sie dafür die Energie eines Wollens, welches ausgerichtet, balanciert und ausdauernd war. Nicht zu angestrengt und überzogen und nicht zu nachlässig, sondern fein eingestimmt und den Umständen angemessen.

Diese beiden Geistesqualitäten, menschlicher Wille und menschliches Bewusstsein, sind nicht einfach nur ein uns bereits in die Wiege gelegtes Menschheitserbe, welches sich bis zum Erwachsenenalter „automatisch“ entfaltet und sich dann nicht mehr weiterentwickelt. Man kann sie vielmehr mit Absicht auch als Erwachsener noch weiter kultivieren und ihr Zusammenspiel bewusster nutzen. Sie sind wichtige Meta-Kompetenzen, die über alle spezifischen Kompetenzen hinausgehen und diese steuern. Im Folgenden sollen sie genauer beschrieben werden.

Der Wille

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Albert Schweitzer

Dieser berühmte Satz von Albert Schweitzer hat eine Tiefendimension, die man ihm beim ersten Hören oder Lesen vielleicht nicht gleich anmerkt.

Albert Schweitzer teilt uns damit seine Erkenntnis mit, dass Leben leben will! Das bedeutet, dass allem Leben also Wille innewohnt. Der Fluss des Lebens ist in seiner Essenz ein Willens-Fluss, in seinem zentralsten Ausdruck angetrieben vom Willen zum Leben – und auf der menschlichen Ebene darüber hinaus der Wille zur Formung und Gestaltung dieses Lebens.

Jede einzelne Handlung, ja jede Bewegung unseres Körpers, wie z.B. das Gehen, braucht den Motor, die Energie des Wollens, sei es unterbewusst („etwas“ in mir will), sei es bewusst (Ich will).

In Bezug auf das Tierreich nennen wir diese Kraft Instinkte, Antriebe, Impulse. Diese Aspekte des Lebenswillens sind auch in uns Menschen als Erbe der Evolution weiterhin angelegt. Auch wir wollen weiterhin instinktiv. Doch mit dem Auftauchen unserer Gattung auf der Erde ging die Entwicklung auf der Bewusstseinsleiter noch ein paar Sprossen höher – und damit verbunden hat sich auch die Willensfähigkeit weiter verfeinert und höherentwickelt. Insbesondere auf der menschlichen Ebene nennen wir diese Kraft dann Wille oder auch Intention.

Das Bewusstsein

Die Wurzeln der Entstehung des Bewusstseins auf der Erde liegen in der Fähigkeit aller Organismen, ihre Umgebung (und evtl. auch ihren eigenen Körper) über ihre Sinne wahrzunehmen.

Wahrnehmung ist also die Grundlage des Bewusstseins. In diesem Sinne haben auch eine Amöbe, ein Insekt, ein Kriechtier oder ein mit einem höher entwickelten Nervensystem ausgestattetes Säugetier eine „Art von Bewusstsein“, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungsgraden, Differenzierungen oder Bewusstseins-„Höhen“.

Die Verbindung von Bewusstsein und Wille

Diese beiden Fähigkeiten, Bewusstsein und Wille, sind miteinander eng verbunden und haben sich in der Evolution der Lebensformen in gegenseitiger Wechselwirkung (Reiz - Reaktion - Reiz - Reaktion - Reiz …) höher entwickelt, verfeinert und immer komplexere Nervensysteme ausgebildet, bis hin zu unserem Gehirn, dem komplexesten uns bekannten Organ im Universum.

Die Gattung Mensch verstehen wir gerade wegen der spezifisch menschlichen Ausprägungen dieser beiden Fähigkeiten als „die Spitze der Evolution“.

Bei uns Menschen ist – im Unterschied zu den Tieren – bei der Bewusstseinsentwicklung auf der Evolutionsleiter noch als weiterer Entwicklungsschritt hinzugekommen:

  1. Dass wir die spezifisch menschliche Sprache – und damit das spezifisch menschliche Denken – entwickelt haben.
  2. Durch das (innere) Sprechen = Denken und das Begleiten unserer Moment-zu-Moment-Erfahrungen mit inneren Kommentaren entstand so eine psychische Innenwelt.
  3. Im Unterschied zu den Tieren haben wir also einen zusätzlichen, wichtigen Wahrnehmungsbereich: Wir nehmen nicht nur unsere Umgebung – die äußere Welt – wahr, sondern wir können uns auch unserer Psyche, also unserer Gedanken, Gefühle, Antriebe und Intentionen bewusst gewahr werden.

Diese innere Instanz, die sich auch der Vorgänge im eigenen Inneren gewahr werden kann, ist das menschliche Bewusstsein. Es steht „über“ dem Denken, denn es kann einen „Abstand“ zum Denken und den eigenen Handlungsmotiven herstellen und diese beobachten. Dadurch entstand erstmalig die Chance einer bewussten Selbstwahrnehmung – und in der Konsequenz davon einer bewussten Selbstführung.

Meine Intention (Wille) ist, den Grad meiner mentalen Präsenz (Geistesgegenwart) zu erhöhen und mit diesem verstärkten Bewusstseinslicht wiederum meine Intentionen zu erhellen, zu klären und auszurichten.

Wille und Bewusstsein kultivieren und stärken sich so wechselseitig in einem aufeinander bezogenen, kontinuierlichen, kreisläufig-spiralförmigen Prozess. Man nennt dies „zirkuläre Kausalität“:

Das Eine wird zur Ursache für die Höherentwicklung des Anderen – und umgekehrt. Wie „männliches“ und „weibliches“ Prinzip, welche in ihrer engen Verbindung etwas Neues zeugen und gebären. In diesem Falle eine Art waches Verbunden-Sein mit sich selbst in diesem Augenblick und dem, was in diesem Augenblick gerade – innen und außen – geschieht. Eine Art innere Kohärenz.

Wofür ist das gut?

In großen Teilen des Tages „funktionieren“ wir wie in einer Art Autopilot-Modus und sind absorbiert in unsere To-Do-Listen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit und Intentionen auf die Welt da draußen und auf unsere Handlungen in ihr, um unsere äußeren Lebensumstände zu beeinflussen und zu gestalten – und manchmal verlieren wir uns darin und verausgaben uns.

Wenn ich aber meine Aufmerksamkeit und Intentionen nicht nur auf die Welt da draußen richte, sondern auch auf mein „inneres Betriebssystem“, wenn ich durch geduldige Übung meine mentale Präsenz immer wieder neu auffrische, bin ich besser in mir verankert und in Verbindung mit den Erfordernissen des Hier und Jetzt, und meine Handlungen sind flexibel, energetisiert und besonnen.

Ich fühle mich dann eher als der Steuermann meines Lebensbootes, weniger von den Stürmen und Wellen des Lebens umhergeschleudert, sondern meinen Kurs mitbestimmend.

„Leben statt gelebt zu werden.“

Das Kernprinzip der Achtsamkeitspraktiken

Die Übungen und Praktiken der Achtsamkeit, wie etwa die Achtsamkeitsmeditation oder der MBSR-Kurs (Mindfulness-Based Stress Reduction, Stressreduktion durch Achtsamkeit), entwickelten sich seit ihrer Einführung durch Jon Kabat-Zinn Ende der 1970er-Jahre zu einem weltweiten Phänomen und wurden 2003 auch in Deutschland populär. Eine überwältigende Zahl und Vielfalt an Forschungsarbeiten (siehe z.B. https://www.mbsr-verband.de/achtsamkeit/forschung) belegt die positive Wirkung dieser Praktiken für die körperliche und mentale Gesundheit, die emotionale Selbstregulation, die Konzentrationsfähigkeit, die so wichtige Kompetenz der Selbstführung sowie im zwischenmenschlichen Bereich die Verbesserung der Kommunikation und damit auch der Zusammenarbeit.

Aufgrund so vieler überzeugender Benefits gibt es kaum noch eine große Firma in Deutschland, die nicht für ihre Mitarbeiter und Führungskräfte Achtsamkeitskurse eingeführt hat. Der Boom ist inzwischen zur Normalität geworden, zu einem Mainstream-Phänomen.

Dennoch wird m.E. das eigentlich Neue, der besondere Kunstgriff in der Praxis der Achtsamkeit, kaum genau beschrieben. Dieser Kunstgriff ist sogar das Kernprinzip der Achtsamkeitspraktiken. Und er besteht genau darin, dass die beiden wesentlichen Meta-Kompetenzen des Menschen, Wille und Bewusstsein, im Sinne einer zirkulären Kausalität aufeinander bezogen werden – und sich so wechselseitig verfeinern.

Ein sehr vereinfachtes Beispiel:

Ich stecke in einer komplexen Herausforderung, die mich mental und muskulär anspannt.

  1. Wahrnehmen: Zunächst unterbewusst oder „halb bewusst“ fange ich an, das langsam zu bemerken.
  2. Zielgerichtete Achtsamkeit: Nun halte ich für einen ganz kurzen Moment inne und richte meine Absicht darauf, meine Bewusstheit zu erhöhen, d.h. bewusstseinsklarer wahrzunehmen, was jetzt gerade vor sich geht. Damit bekomme ich einen Raum, einen kleinen Abstand zum Geschehen, bin nicht mehr voll darin untergetaucht bzw. voll damit identifiziert.
  3. Erkennen: Aus diesem kleinen, beobachtenden Abstand heraus werde ich mir jetzt spontan bewusst, dass ich angespannt bin und automatisch und unbewusst meine Schultern etwas hochgezogen habe..
  4. Wollendes Tun: Daraufhin kann ich mit Absicht (Intention/Wollen), die durch meine erhöhte Bewusstheit „aufgeklärt“ ist, meine Schultern loslassen und auch noch einen entspannenden, tiefen Ausatemzug folgen lassen. Und damit lasse ich nicht nur muskulär, sondern auch mental meine Anspannung etwas mehr los. Mit einer veränderten, günstigeren Verfassung führe ich nun meine Arbeit wieder fort und bin darin flüssiger als vorher in meinem angespannten Zustand.
  5. Achtsamkeit: Im Wissen darum, wie wichtig die Steuerung und Pflege meiner inneren Verfassung ist, erneuere ich sodann weiterhin in kurzen Abständen immer wieder meine Absicht, meine Geistesgegenwart (Bewusstheit) aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Diese hält den Raum zwischen mir und meinen Handlungen, der es mir ermöglicht, flexibel, angemessen und kohärent auf den Fluss der laufenden Herausforderungen zu antworten, statt zu reagieren.

Theorie und Praxis

Wir sind denkende Wesen und mit unserem Denken wollen wir uns Orientierung geben in der Vielfalt unseres Erlebens. Wir wollen uns selbst und anderen erklären können was wir tun, warum wir es tun und wo wir hinwollen. Wir wollen sagen können warum und wie etwas funktioniert – oder auch nicht funktioniert. Aus diesem Grunde ist für uns die Theorie eine wertvolle Dienerin der Praxis - auch der Lebenspraxis. Indem wir um präzise Beschreibungen, genaue Begriffe und erhellende Metaphern ringen, erschließen wir uns damit möglicherweise neue Landschaften des direkten Erlebens.

"Es gibt nichts Pragmatischeres als eine gute Theorie.“
Albert Einstein

Möge das hier Beschriebene das Potenzial haben, die eigene (Lebens-)Praxis des interessierten Lesers bereichern.

Der Autor

Gerd Metz ist Psychologe, Senior Business Coach BDP (nach den Kriterien des Berufsverbands Deutscher Psychologen), Supervisor, Trainer, Psychotherapeut, Gründer und Inhaber des ZEB Zentrum für Entwicklung und BewusstSein Nürnberg, eines der sieben zertifizierten Ausbildungsinstitute für Achtsamkeits- und MBSR-Trainer in Deutschland. Das ZEB verfügt auch über ein kompetentes Trainernetzwerk für Trainings und Coachings schwerpunktmäßig im Bereich Achtsamkeit, Resilienz, Selbstführung, Agilität.

www.zeb-nuernberg.de

 

Bildnachweis: Gerd Metz - Foto-Studio Stöhr, Fürth

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