Achtsamer Generationswechsel in einem Familienunternehmen

von Rüdiger Standhardt

Der Generationswechsel von der ersten zur zweiten Generation glückt zu knapp 50 Prozent, die Stabsübergabe an die dritte Generation ist nur noch in jedem zwanzigsten Unternehmen erfolgreich.

Nicht einmal 5 % aller jemals gegründeten Unternehmen erleben überhaupt die dritte Generation. Helmut Habit, Jochen Berninghaus

Unternehmensnachfolgeregelung ist in erster Linie ein emotionaler Klärungsprozess des Unternehmers mit sich selbst, seinen Angehörigen und den Mitarbeitern. Die steuerlichen, gesellschaftsrechtlichen und finanziellen Aspekte machen erfahrungsgemäß nur fünfundzwanzig Prozent der gesamten Nachfolgeregelung aus. „Vor diesem Hintergrund ist es von großer Bedeutung, dass der Unternehmer, dessen Nachfolge ansteht, einen Sparring-Partner an seiner Seite hat. Jemand, der ihn für die Herausforderung sensibilisiert, ihn durch den Prozess führt, externe Spezialisten integriert und mit dem Inhaber gemeinsam die optimale Nachfolgelösung erarbeitet. Vorzugsweise ein Generalist, der jederzeit den Gesamtüberblick gewährleistet und der ohne persönliches Interesse unabhängig im Dienst der Sache agiert“, so der Unternehmensberater Leonhard Fopp.

Jeder achtsame Nachfolgeprozess verläuft individuell und ist angesichts der Intimität der anstehenden Themen nur auf einer gemeinsamen Wertebasis und einer stabilen Vertrauensbeziehung zwischen dem externen Coach und allen Beteiligten möglich.

Nachfolge-Coaching ist im besten Sinne eine vertrauensbildende Maßnahme. Dieter Mueller-Harju

Achtsamkeitsbasiertes Nachfolge-Coaching kann nur gelingen, wenn der Coach seine eigene Achtsamkeitspraxis kultiviert. Aus dieser inneren Ruhe und Stabilität heraus ist seine Vorgehensweise prozessorientiert - einerseits arbeitet er rational und geplant, zugleich aber auch intuitiv und kreativ. Seine innere Haltung ist geprägt durch geistige Offenheit, engagierte Neugierde und innere Verbundenheit. Der Coach begreift sich in jedem Moment als Experte und als Lernender – insbesondere die Momente des „Nicht-Wissens“ sieht er als besondere Chance für die Erweiterung der Perspektive. Damit kommen Themen und Vorgehensweisen in den Blick, die bislang unbedeutend schienen, sich aber für den Gesamtprozess als wesentlich herausstellen. Der Coach hat die Bereitschaft, auch unkonventionelle Wege zu gehen und sich immer wieder neu aus der Stille heraus mit den Menschen des Unternehmens im Herzen zu verbinden. Die unterschiedlichsten Blickwinkel einnehmend sucht er das Gespräch mit den verschiedenen Interessensgruppen im Unternehmen. Er kümmert sich darum, dass sämtliche Unklarheiten, Unsicherheiten und Konflikte rund um das Nachfolgethema auf den Tisch kommen. Darüber hinaus ermutigt er den Unternehmer, auch alle anderen Menschen, die mit dem Unternehmen in irgendeiner Weise verbunden sind, in den Blick zu nehmen. Dazu gehören seine direkten Familienangehörigen, aber auch die Hausbank, Kunden und Zulieferbetriebe.

Wenn der Coach von allen Beteiligten akzeptiert ist, kann ein achtsam begleiteter Nachfolgeprozess sehr an Tiefe gewinnen. Nicht selten werden unbearbeitete Familienthemen aufgedeckt oder die Unternehmer offenbaren ihre ganz persönlichen Befürchtungen und Ängste. Manchmal fungiert der Coach als Klärungshelfer, der Brücken zwischen den Generationen baut, dann wieder richtet er den Fokus entschlossen auf die nächsten Aufgaben oder er findet einen behutsamen Umgang mit den herausfordernden Themen.

Jedem ist klar, wie komplex der Aufbau eines Unternehmens ist. Dagegen wird der zeitliche Umfang eines Generationswechsels regelmäßig unterschätzt. Erfahrungsgemäß dauert der Nachfolgeprozess etwa drei Jahre.

 

Einen Einblick in den Prozess eines achtsam begleiteten Generationswechsels gibt der Bericht von Rüdiger Standhardt, den er zum Abschluss seiner Tätigkeit im Autohaus Karl Russ formulierte.

Als externer Trainer und Coach begleitete ich das Autohaus Karl Russ in Dettingen von 2001 bis 2008. Zu meinen Arbeitsschwerpunkten gehörten Kommunikationstrainings für Kundenberater, Führungskräftecoachings und die Einführung von neuen Führungsinstrumenten. Im Rahmen der Einzelcoachings mit den vier Gesellschaftern, den Brüdern Siegfried Russ und Eberhard Russ (Senioren) und ihren Söhnen Hansjörg Russ und Stefan Russ (Junioren) kam auch das Thema „achtsame Unternehmensnachfolge“ zur Sprache. Ich regte an, in einer zweitägigen Klausurtagung zunächst einmal eine umfassende Bestandsaufnahme zu machen. „Mein Vater und mein Onkel waren davon überzeugt, alles an einem Wochenende klären zu können. Das erwies sich als Trugschluss“, erinnert sich Stefan Russ. „Es kristallisierte sich heraus, dass es viele Herausforderungen im Betrieb gab und auch etliche zwischenmenschliche Baustellen.“ Am Ende dieser ersten Klausurtagung war ein wichtiger Entschluss gefasst: In Zukunft würden die vier Gesellschafter einmal monatlich mit dem Coach zusammenkommen, um gemeinsam die Unternehmensnachfolge in einem achtsamen Prozess zu gestalten.

Bei den monatlichen Treffen ging es vor allem darum, inmitten von unterschiedlichen Einschätzungen und Meinungen eine Atmosphäre der Offenheit und Wertschätzung zwischen allen Beteiligten herzustellen. Auf dieser Basis konnten alle inhaltlichen Fragen und Themenstellungen des Generationswechsels angegangen werden. Gemeinsam entstand ein umfangreicher Nachfolgefahrplan, in dem jeder Schritt der Übergabe genau beschrieben und terminiert wurde. Auch die Anregung, einen Notfallplan zu erstellen, wurde aufgegriffen und in die Tat umgesetzt. Im Todesfall eines oder aller Gesellschafter kann jetzt für alle wichtigen Entscheidungen auf die gemeinsam verabschiedeten Festlegungen zurückgegriffen werden.

„Der Coach fungierte als Moderator und sorgte dafür, dass jeder seine Wünsche und Ideen einfließen lassen konnte“, so Hansjörg Russ. Zusätzlich hatten die Gesellschafter und ihre Ehefrauen in kontinuierlich stattfindenden Einzelgesprächen die Möglichkeit, sehr persönliche Themen in absoluter Vertraulichkeit zu besprechen.

Höhepunkt und Ende des Nachfolgeprozesses war ein Fest. Einen Tag lang nahmen sich die vier Gesellschafter, ihre Ehefrauen und der Coach Zeit, um den Generationswechsel achtsam und in Würde zu feiern. In einfühlsamen Reden würdigten die Gesellschafter den gemeinsam durchlaufenden Prozess, Geschenke wurden überreicht, es gab Momente der Stille, der Musik und des achtsamen Innehaltens. Besonders bewegend war das Ritual der Stabsübergabe der Senioren an die Junioren. Diese letzte Familienkonferenz war der krönende Abschluss des dreijährigen Nachfolgeprozesses und gleichzeitig ein ausgesprochen bewegender Tag in der Firmengeschichte Russ.

Unmittelbar nach der offiziellen Stabsübergabe im Familienkreis wurden alle Führungskräfte und Mitarbeiter des Unternehmens ausführlich über die Veränderungen in Kenntnis gesetzt und hatten ausreichend Möglichkeit, alle anstehenden Fragen im Gespräch mit den Junioren und Senioren zu klären. „Durch das Coaching ist uns bewusst geworden, wie wichtig es ist, den Betrieb transparent zu führen und für ein offenes Gesprächsklima zu sorgen“, so einer der Junioren im Gespräch mit den Mitarbeitern.

Ich empfinde große Dankbarkeit für die sieben Jahren, die ich das Familienunternehmen Karl Russ begleiten durfte. Ich danke besonders den vier Gesellschaftern für das Vertrauen, die Offenheit und die Kontinuität in unserer Zusammenarbeit. Ich weiß sehr zu schätzen, für sie nicht nur der Coach gewesen zu sein, sondern immer auch „säkularer Seelsorger“ und „Hofnarr“. In dieser Position konnte ich so mache offenherzige und nicht selten auch provokative Rückmeldung geben. Die Bereitschaft, sich nicht zu verstecken, sondern sich mit ihrem ganzen Menschsein offen zu zeigen, ist einzigartig für ein Unternehmen! Die Verleihung des Siegertitels an das Autohaus Karl Russ im Bundeswettbewerb „Erfolgreicher Stabswechsel“ war daher nicht wirklich überraschend. Seine Anerkennung brachte der Bundeswirtschaftsminister bei der Preisübergabe am 1. Februar 2011 mit den nachfolgenden Worten zum Ausdruck: „Die Preisträger haben gezeigt, wie Unternehmensübergabe familienintern vorbildlich gestaltet werden kann. Sie sind ausgezeichnete Beispiele für einen gelungenen Generationswechsel im Mittelstand.“

(aus: Cornelia Löhmer, Rüdiger Standhardt: Timeout statt Burnout. Einübung in die Lebenskunst der Achtsamkeit. Stuttgart: Klett-Cotta 2012, S. 140-146)

Zur Person von Rüdiger Standhardt

Dipl.-Pädagoge, selbständiger Trainer, Berater und Coach, Institutsleiter des Forum Achtsamkeit (www.forumachtsamkeit.de), Autor von neun Buchveröffentlichungen sowie ehrenamtlicher Hospizbegleiter. Langjährige Begleitung von Veränderungsprozessen zu mehr Kundenorientierung, Teamentwicklung und Führungskultur sowie Verkaufs- und Servicetrainings in der Automobilbranche (Mercedes, Mazda. MAN und zuletzt Renault). Nachfolge-Coachings in mittelständigen Unternehmen, u.a. wurde dem von mir sieben Jahre lang begleiteten Mercedes Autohaus Karl Russ in Dettingen im Bundeswettbewerb „Erfolgreicher Stabswechsel“ vom Bundeswirtschaftsminister der Siegertitel 2011 überreicht.

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Literatur-Tipp

 

Cornelia Löhmer, Rüdiger Standhardt: Timeout statt Burnout. Einübung in die Lebenskunst der Achtsamkeit. Stuttgart: Klett-Cotta

 

Bildnachweis: Rüdiger Standhardt; Verlag Klett-Cotta

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