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Bildnerische Methoden (2)

Emotionale Selbstregulierung mithilfe von Bildern

Sabine Mertens

Niemand würde heute mehr abstreiten, dass die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, zu schreiben und zu lesen, die Überlebenschancen erhöht. Nun, ich bin sicher, dass auch durch ästhetische Bildung und ein besseres (Selbst-)Verständnis von Metaphern, Symbol- und Zeichensprache Lebensqualität verbessert und Überlebenschancen erhöht werden. In diesem Artikel lernen Sie, wie man die in Bildern enthaltenen Symbole und emotionalen Engramme (Gedächtnisspuren) nutzen kann, um Krisen zu bewältigen, angemessene Entscheidungen zu treffen und Selbstregulierung zu lernen.

Lebenslanges Lernen, aber wie?

Die Zeichnerin des folgenden Bildes, Frau R., hat sich erfolgreich mit Dienstleistungen für Unternehmen selbstständig gemacht. Dank ihrer einnehmenden Kommunikationsweise ist Kundengewinnung eine ihrer stärksten Seiten. Aktuell will ihr die Kundenansprache allerdings nicht gelingen. Überaus selbstkritisch und motiviert von der besten Absicht, „lebenslanges Lernen“ umzusetzen, hat Frau R. bei sich selbst akute Wissensdefizite diagnostiziert und erwägt eine zweijährige Weiterbildung an einem renommierten Institut (zu einem Tarif im oberen vierstelligen Bereich). Sie nennt das Bild, das ihren momentanen (depressiven) Zustand und die „Angst, Fehler zu machen“ wiedergibt, „Zerbröseln“.

sabine_mertens_160422a.jpg Resonanzbild zu einem Gefühl: „Zerbröseln“ (Frau R.)

Punkte und diagonal geschwungene Linien sind so nah beieinander angeordnet, dass sie eine nach allen Seiten offene Haufenform zwischen Erkennbarkeit und Auflösung ergeben. Im rechten oberen Quadranten des Bildraums eine senkrechte Linie und darunter ein Punkt. „Ein Ausrufezeichen — Achtung vor der Gefahr“, sagt die Zeichnerin. Um das Kernthema herauszukristallisieren, lasse ich Frau R. weitere Assoziationen und Erinnerungen ins Bild setzen. (Ihre eigene Deutung des Symbols greife ich nicht auf).

Verdichtete Lebenserfahrung

„Woher kennen Sie dieses Gefühl des Zerbröselns?“, frage ich. Es folgt ein Bild mit dem ausgeschriebenen Firmennamen des Unternehmens, bei dem sie vor ihrer Selbstständigkeit viele Jahre beschäftigt war. Die letzten Jahre ihrer Betriebszugehörigkeit waren überschattet von einem permanenten Veränderungsprozess des Unternehmens, das jederzeit von der Liquidation bedroht war... Auch die viel weiter zurückliegende „Trennung der Eltern“ assoziiert sie mit dem Zerbröseln.

Gefühle zuordnen

Des Weiteren fallen ihr zum Thema Zerbröseln auch ihre permanenten „Selbstzweifel“ ein, das Gefühl, „im Erfolg allein gelassen“ und sogar negativ beurteilt zu werden: „Das schaffst du nie!“ vermitteln die beiden Figuren im Hintergrund (ihre Eltern) ihr (der Figur auf dem Podest).

sabine_mertens_160422b.jpg Resonanzbild auf ein Resonanzbild: „Selbstzweifel“ (Frau R.)

Frau R nennt das Bild „Selbstzweifel“. Es wird aber deutlich, dass die Zweifel (stellvertretendes Symbol ist das Fragezeichen) gar nicht zu ihr selbst, sondern zu den Eltern gehören, die durch ihre negative Einstellung und dauernde Kritik Frau R.s Fortkommen lebenslang massiv boykottierten.

Die Bildsequenz öffnen — leere Blätter als Projektionsflächen

Wir legen nun alle Bildassoziationen nach links an das Resonanzbild „Zerbröseln“, da die Assoziationskette sich auf zurückliegende Situationen bezieht. (In der linearen Sichtweise der Bildreihe liegt die Vergangenheit links, die Zukunft rechts). Die fertige Sequenz ergänzen wir links und rechts je durch ein leeres Blatt. Im chronologischen Verlauf wird nun erkennbar, dass das Gefühl des Zerbröselns die Ausweitung und Generalisierung eines viel älteren Gefühlskomplexes darstellt... (siehe Grof, COEX-Systeme). 

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Ressourcen aktivieren

Da Frau R. ihr Leben bislang eigenständig gemeistert hat, muss es außer dem wiederkehrenden Zerbröseln auch resiliente Eigenschaften geben, mit deren Hilfe sie (über-)leben konnte. „Was hat Sie befähigt, die bisherigen Krisen zu überwinden?“, erfrage ich diese Eigenschaften direkt. Stellvertretend füllen wir jetzt das leere Blatt rechts mit Hütchen.

Da stehen nun Durchhaltevermögen, Optimismus, Lebensfreude, die Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen und Krisen durchzustehen, Improvisationstalent, Selbstvertrauen, Verführungskunst und so weiter. (Einige der Eigenschaften korrelieren mit den klassischen resilienten Fähigkeiten, siehe Reivich / Shatté 2002). 

Als wir unsere Aufmerksamkeit auf Frau R.s starke Eigenschaften richten, die sie, verknüpft mit konkreten Situationen, auf das vormals leere Blatt projiziert hat, wendet sich ihre Stimmung, die Lebensgeister kehren zurück.

Die zyklische Lesart

In einem letzten Schritt legen wir die Sequenz auch noch im Kreis. So spiegelt sie das Leben der Zeichnerin insgesamt wider. Die resilienten Eigenschaften werden anschlussfähig, die Tiefpunkte erscheinen als vorübergehende Phänomene. Anstatt in ihrem ohnmächtigen Gefühl gegenüber dem Zerbröseln zu verharren, wird ihr nun klar, dass sie es nicht verhindern kann, denn es gehört zum Leben mit seinen zyklischen Abläufen. Sie konnte weder die Trennung der Eltern, noch den Untergang des Unternehmens verhindern; eine heile Welt mit ewigem Zusammenhalt von Dingen und Menschen gibt es nicht.

Deckthemen erkennen

Mithilfe der beschriebenen Bildsequenz konnten wir herausfinden, dass Frau R. zur Weiterentwicklung ihres Unternehmens keineswegs das nötige Fachwissen fehlte. Der vermeintliche Weiterbildungsbedarf verdeckte die akute Selbstwertkrise. Die Fortbildung wäre eine teure Fehlinvestition gewesen. Schlimmer noch: Als Teilnehmerin einer Maßnahme, deren Inhalte ihr sogar aus eigener praktischer Berufserfahrung bekannt waren, hätte sie ihr angeschlagenes Selbstvertrauen nur noch weiter unterminiert. Stattdessen hat sie die Gespenster der Vergangenheit aktiv konfrontiert, negative Überzeugungen aufgelöst, ihre (emotionalen) Ressourcen gestärkt. Mit dem neu gewonnenen Selbstvertrauen kann sie sich nun für ihr kleines Unternehmen stark machen und parallel zur Projektabwicklung neue Kunden akquirieren.

Literatur-Empfehlungen

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Sabine Mertens
Wie Zeichnen im Coaching neue
Perspektiven eröffnet
Beltz Verlag 2014

  • Die Psychologie der Zukunft. Erfahrungen der modernen Bewusstseinsforschung, Stanislav Grof, Verlag Astrodata 2002
  • Reivich, Karen/Shatté, Andrew: The Resilience Factor. Portland: Broadway Books 2002 

Die Autorin: Sabine Mertens

ist Kunsttherapeutin und Psychotherapeutin HPG in eigener Praxis in Hamburg. Ihr Schwerpunkt in Diagnostik, Coaching, Training und Supervision ist die systemische Bearbeitung von Klientenzeichnungen. Ihre Leidenschaft ist emotionales Selbstmanagement und die VerFührung ihrer Mitmenschen zur Selbst­führung.

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