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Systemisches Konsensieren

10 Fragen zum Systemischen Konsensieren

Interview mit Josef Maiwald

Systemisches Konsensieren (SK) ist eine Methode zur Unterstützung von Menschen bei der Entscheidungsfindung. Sie ist sehr variabel einsetzbar. Das Spektrum reicht von einer schnellen Klärung innerhalb von wenigen Sekunden bis hin zu komplexen Fragestellungen, die einen entsprechend längeren Lösungsprozess erfordern. Der besondere Ansatz der Methode besteht darin, dass Bedenken und Widerstände in Bezug auf Lösungsalternativen erfasst und als kreatives Potenzial genutzt werden. Dadurch entsteht eine Dynamik, die eine Lösungsfindung im Sinne der Gruppe fördert. Die spezielle Haltung und Vorgehensweise schafft Lösungen, die sich für die Beteiligten transparent nachvollziehbar dem Konsens so weit wie möglich annähern.

Bernhard S. Laukamp (BSL) interviewte den Trainer, SK-Experten und Autor Josef Maiwald (JM) zu wichtigen Fragen zum Systemischen Konsensieren.

Allgemeine Fragen und Politik

BSL: Kann man SK nicht einfach aus dem Buch lernen? Oder per YouTube-Video? Es gibt doch schon einiges an Material auf dem Markt?

JM: Ja, es gibt einige Videos und Bücher. Auch ich habe ja zwei Bücher geschrieben und ich bin dabei, ein Hörbuch zu produzieren. Natürlich hoffe ich, dass die Leute von diesen Medien möglichst viel profitieren. Allerdings merke ich an Seminarteilnehmer/innen, die bereits Bücher gelesen haben und dann ins Seminar kommen, dass Lesen alleine für viele nicht reicht, die Grundidee wirklich zu verinnerlichen. Die Diskussion und gezielte Übungen im Seminar fördern das Verständnis deutlich tiefgreifender. Und mit Anwendungsmöglichkeiten kann man natürlich im Seminar auch viel besser experimentieren.  

BSL: SK gibt es schon seit vielen Jahren. Es ist in bestimmten Zusammenhängen anderen Entscheidungsmethoden hoch überlegen, weil es nachhaltigere und stabilere Lösungen schafft. Weshalb hat es sich bisher noch nicht durchgesetzt?

JM: Als Standardmethode für Gruppenentscheidungen ist die Mehrheitsentscheidung seit Jahrhunderten etabliert. Wenn jemand sagt, „lass uns demokratisch entscheiden“, ist für alle klar, dass eine Mehrheitsentscheidung erfolgen soll. In Vereinssatzungen, in der Gemeindeordnung und im Wahlrecht ist das Mehrheitsprinzip verankert.  Für Entscheidungen im privaten und beruflichen Umfeld, bei denen man nicht autoritär, sondern partizipativ entscheiden will, übernimmt man das Mehrheitsprinzip ebenso – meist aus dem schlichten Grund, weil man nichts anderes kennt. Nur wenige hinterfragen, ob das so sein muss, da man ja bisher immer zu Entscheidungen gekommen ist – und immer wieder sogar zu guten. Und ausgerechnet die, die politisch an den Machhebeln sitzen, haben am wenigsten Grund, über Alternativen nachzudenken. Sie beherrschen ja die Mechanismen, die ihnen helfen, ihre Positionen durchzusetzen.

SK ist der Mehrheitsentscheidung bei weitem überlegen – es gibt dafür jede Menge Argumente, die sich aus theoretischen Überlegungen ableiten lassen und die praktischen Erfahrungen zeigen es auch immer wieder. Allerdings ist SK nicht einfach eine andere Methode. SK ist ein kompletter Paradigmenwechsel. Es hat auch lange gedauert, bis die Mehrheit der Menschen sich von der Vorstellung gelöst hat, dass die Erde eine Scheibe ist. Erfolgreiche, machtorientierte Menschen haben gelernt, sich durchzusetzen – ich kann gut nachvollziehen, dass es schwer ist, das Durchsetzungsvermögen nicht auszuspielen und dafür Strategien anzuwenden, die dafür sorgen, dass man nicht nur die Mehrheit erringt, sondern dass man auch widerstrebende Ideen möglichst integriert und die Gruppe zur größtmöglichen Annäherung an den Konsens führt. 

BSL: Das hört sich nicht so an, als könnte sich SK schnell verbreiten?

JM: In der Tat musste auch ich lernen, dass sich gute Ideen nicht so schnell verbreiten wie ich mir das wünschen würde. Allerderdings gibt es Personengruppen, die dem SK sehr aufgeschlossen gegenüber stehen: jüngere Führungskräfte, Team- und Projektleiter/innen, aber auch Kindergärtner/innen und Lehrer/innen.

Am längsten wird es vermutlich in der Politik dauern, bis man zum Umdenken bereit ist. Meines Erachtens sind die Zeichen längst unverkennbar, dass wir unsere Demokratie weiterentwickeln müssen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wird immer größer. Jüngst hat die Landtagswahl in Bayern gezeigt, dass man selbst dann deutlich an Wählergunst verlieren kann, wenn die Arbeitslosenzahl niedrig und die wirtschaftliche Situation blendend ist. Die Parteienlandschaft zersplittert sich immer mehr, da wichtige Anliegen der Bürger/innen nicht integriert werden. Die Parteivorsitzenden wünschen sich klare – am liebsten absolute – Mehrheiten, die wohl auf absehbare Zeit nicht mehr erreichbar sind. Die große Koalition funktioniert angeblich nicht, da man sich zu ähnlich ist – Jamaika war nicht möglich, da die Positionen zu unterschiedlich waren. Sprich: unsere Politiker sind momentan mit ihren bisherigen Strategien nicht wirklich regierungsfähig – nicht auf Bundesebene und schon gar nicht auf Europaebene. Ich hoffe, dass der Leidensdruck auch bei den politisch Verantwortlichen groß genug ist, etwas zu ändern, noch bevor sich radikale Gruppierungen immer mehr durchsetzen.

BSL: Könnte SK den Siegesmarsch der radikalen Parteien stoppen?

JM: Davon bin ich überzeugt. Aktuell gilt für den Wahlkampf „Wer polarisiert, der mobilisiert“. Wenn man beobachtet, durch welche Strategien junge Parteien den Sprung über die 5-Prozenthürde schaffen, lässt sich feststellen, dass das angefangen bei den Grünen, über die Piraten bis hin zur AfD fast immer Gruppierungen sind, die recht provokant auftreten. Emmanuel Macron und seine Bewegung „En Marche“ ist hier eine Ausnahme. Aber insgesamt scheint es sehr schwer zu sein, nur durch gute Ideen und solide Vorschläge Gehör zu finden. Es ist aktuell erfolgsversprechender mit simplen, provokanten und in weiten Teilen sachlich unhaltbaren Thesen einen erheblichen Teil der Unzufriedenen einzusammeln. Es würde die politische Kultur maßgebend ändern, wenn es nicht reichen würde, 5+x Prozent Fans bzw. Protestwähler zu gewinnen, sondern wenn es auch noch erforderlich wäre, dass alle anderen Wähler diese Thesen mittragen können. So wäre dies bei einer Entscheidung mittels SK (ein Beispiel finden Sie auf meiner website). Radikalität und Polarisierung wäre dann kein Vorteil mehr, sondern ein Nachteil. Und dies käme der Wirklichkeit doch wesentlich näher als das, was wir momentan in Talkshows und Wahlkampfveranstaltungen erleben.

BSL: Noch einmal zur langsamen Verbreitung von SK. Kann es nicht auch daran liegen, dass SK auf den ersten Blick kompliziert und aufwändig im Einsatz erscheint?

JM: Nun ja, beispielsweise die Frage zu stellen „Brexit ja/nein“ und dann mehrheitlich abzustimmen, ist natürlich wesentlich simpler. Nur ist es auch sachgerecht? Und führt diese Methode zu befriedigenden Lösungen? 2016 haben 51,89 % der Briten (die 72 %, die an der Wahl teilnahmen) für den Brexit gestimmt. Das heißt, es gab ca. 52% Gewinner der Abstimmung und 48% Verlierer. Das heißt aber auch, ein so stümperhaft eingefädelter Volksentscheid ist das „beste“ Mittel, die Unzufriedenheit zu maximieren. In Wirklichkeit haben aber nicht nur 48% die Abstimmung verloren. Es hätte aller Wahrscheinlichkeit Lösungen zwischen den beiden Extremen Alternativen „ja“ und „nein“ Alternativen gegeben, die viel besser für die Briten und für die EU-Bürger/innen gewesen wären. Statt dessen haben durch die simple Methode vermutlich alle verloren.

Fazit: SK ist alles andere als kompliziert, wenn man es für die Beantwortung von einfachen Fragen nutzt. Es kann aber auch mit komplexen Fragestellungen umgehen. Aufgrund dieser Bandbreite und der Tatsache, dass es nicht sinnvoll ist, einfach immer ein Schema durchzuziehen, ist die Methode in ihrer Gesamtheit schon etwas anspruchsvoller. Bei einer einigermaßen guten Moderation sollte es aber so sein, dass sich ein eventueller Mehraufwand durch die höhere Qualität und Nachhaltigkeit der Entscheidungsergebnisse bezahlt macht. 

BSL: Bei welchen Situationen kann man SK besonders gut gebrauchen, wann wäre es die erste Empfehlung, SK einzusetzen?

JM: Die Frage möchte ich indirekt beantworten. Ich habe vor fünf Jahren mit der Intension begonnen, ein Buch über Entscheidungsfindung zu schreiben. Herausgekommen ist ein Buch zum Systemischen Konsensieren. SK ist für mich – auch nach eingehender Prüfung anderer Methoden – immer die erste Wahl. Ganz oft ist es sinnvoll, eine Gruppe in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen und die kollektive Intelligenz zu nutzen.

Die Frage ist daher nicht, ob ich SK einsetze, sondern mit welchem Personenkreis: im Firmenkontext könnte dies die ganze Belegschaft, die Führungskräfte oder der oberste Führungskreis sein. Auch wenn ich alleine eine Entscheidung fällen muss oder möchte, kann es hilfreich sein, mit meinem Inneren Team zu konsensieren.

Es gibt m.E. nur ganz wenige Ausnahmen, in denen man SK nicht sinnvoll einsetzen kann – nämlich dann, wenn ein Konsens von vornherein nicht möglich ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn sich Delegierte treffen, die mit einer unverrückbaren Position in eine Verhandlung gehen. Wenn der Konsenswille nicht gegeben ist, wird auch eine Annäherung äußerst schwierig bis unmöglich. Aber selbst hier könnte SK ein hilfreicher Zwischenschritt sein, um transparent zu machen, wie weit man von einer Lösung entfernt ist und dass ohne ein Abrücken von den eingenommenen Positionen keine Einigung möglich ist.

Weiterbildung

BSL: Warum sollten Weiterbildner sich mit SK beschäftigen?

JM: Das ist endlich mal eine Frage, die sich schnell und knapp beantworten lässt. SK ist alles andere als alter Wein in neuen Schläuchen. SK hat in vielen Bereichen ein riesiges Potenzial, alte Verhaltensmuster zu hinterfragen und durch bessere Strategien zu ersetzten. Der besondere Gewinn liegt im konstruktiven Umgang mit Bedenken und Widerständen und dass es möglich ist, das Konfliktpotenzial von möglichen Lösungen zu erkennen, bevor man eine Entscheidung trifft. Schön finde ich auch, dass sich SK mit anderen bewährten Konzepten wie Moderation, Kreativitätstechniken, Inneres Team, Harvard Konzept, Gewaltfreie Kommunikation usw. gut kombinieren lässt. Dadurch ist SK eine Bereicherung für viele Seminarthemen (z.B. generationsgerechte Führung, gesundheitsorientierte Führung, Besprechungskultur, usw.).

BSL: Ist SK eigentlich fertig entwickelt oder gibt es Neues, was die Methode noch alltagstauglicher und praktischer macht?

JM: SK ist weitgehend fertig entwickelt. Wir – das heißt das Institut für Systemisches Konsensieren – verändern von Zeit zu Zeit Begriffe oder ändern eine kleine Nuance. Aber das sind m.E. nur noch Kleinigkeiten. Allerdings verspreche ich mir viel von der Weiter- und Neuentwicklung von Tools. Es gibt ja bereits eine Muster-Exceltabelle, Konsensierungsfächer und Online-Lösungen. Auch Apps fürs Handy gibt es. Die EDV-Tools werden gerade weiterentwickelt und für spezielle Anwendungen optimiert.  

Bereich Unternehmen

BSL: In welchen Unternehmenskontexten kann man SK besonders gut einsetzen?

JM: Ich habe SK beispielsweise als Element in regelmäßen Besprechungen eingeführt. Die Agenda besteht dann aus Fragestellungen, für die Lösungsoptionen erarbeitet werden, die anschließend bewertet werden und über die dann entschieden wird. Dies hat die Effektivität der  Besprechungen maßgebend erhöht. Außerdem gibt es positive Auswirkungen auf die Besprechungskultur. Momentan planen wir eine Studie, die die positiven Effekte von SK auf die Effektivität von Besprechungen und auf die Besprechungskultur systematisch untersucht. Wenn Sie Interesse haben, sich an der Studie zu beteiligen, die u.a. eine vergünstigte Ausbildung in SK beinhaltet, können sich Interessenten gerne an mich wenden. 

Eine andere, sehr sinnvolle Anwendung ist die Erarbeitung von Verbesserungsmaßnahmen – beispielsweise auf der Basis von Ergebnissen einer Mitarbeiterbefragung. Interessierte Mitarbeiter widmen sich einer bestimmten Fragestellung wie etwa „Verbesserung des internen Informationsflusses“ und erarbeiten sowie bewerten mögliche Maßnahmen. Das Ergebnis dieses themenbezogenen Innovationsteams geht dann als „Konsensierte Entscheidungsempfehlung“ an die Entscheider im Unternehmen. Für diese hat dies folgende Vorteile: die Betroffenen wurden eingebunden, das kreative Potenzial wurde genutzt und schon zum Zeitpunkt der Entscheidung lässt sich abschätzen, wie hoch die Akzeptanz einzelner Entscheidungen ist.

Klassische Anwendungen sind natürlich auch Strategiemeetings, Investitionsentscheidungen oder Entscheidungen, wie der nächste Betriebsausflug oder die nächste Weihnachtsfeier gestaltet werden soll. Auch die Bezeichnung von Produkten, den Einsatz von finanziellen Mitteln und Personalentscheidungen habe ich schon in diversen Unternehmen konsensiert.

Sobald die Anwender/innen die Vorzüge des SK für sich entdeckt haben, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Schließlich fällen wir pro Tag eine Vielzahl von Entscheidungen. Und immer wenn ein schneller Fehlschuss gravierende Folgen haben könnte und es Sinn macht, unterschiedliche Alternativen abzuwägen, kann SK sehr hilfreich sein.

BSL: SK müsste doch gerade Managern sehr entgegenkommen. Sie sind ja i.d.R. in der Zwickmühle, dass sie ihre Entscheidungen begründen müssen. Mit dem Instrumentarium von SK sind Entscheidungen doch viel besser zu belegen und zu dokumentieren, als bei herkömmlichen Methoden. Ist das so und wie reagieren Manager auf die Methode, sobald sie diesen Vorteil erkannt haben?

JM: Hier möchte ich noch einmal betonen, dass SK nicht gleichbedeutend ist mit „Zahlenwerte erheben“. Es geht immer um mögliche Bedenken, die sich auch in einer gerunzelten Stirn äußern können.

Aber gerade wenn es darum geht, Alternativen abzuwägen, bietet sich die formalisierte Bewertung an. Im Grunde fragen wir: „Spricht etwas gegen den Vorschlag? Wenn ja, wie viel?“. Die Standard-Skala reicht von 0 bis 10, wobei 10 maximale Abwehr bedeutet.

Ich persönlich schätze in überschaubaren Gruppen bis ca. 20 Personen eine Excel-Tabelle, die mir die Rechenarbeit abnimmt und außerdem hervorragend geeignet ist, Entscheidungen zu dokumentieren.

Ohne weiteres Zutun weiß ich, welche Alternativen diskutiert wurden und wie sie bewertet wurden. Wenn erforderlich kann ich auch noch in einer zusätzlichen Spalte oder über die Kommentarfunktion Zusatzinformationen festhalten.

Also im Prinzip ist das eine feine Sache. Und das wird – auch wenn das nicht unbedingt heißt, dass es immer konsequent umgesetzt wird – auch von den meisten Managern bzw. Führungskräften so gesehen.

 

BSL: Vielen Dank Josef Maiwald für das sehr interessante Interview. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen das Systemische Konsensieren kennenlernen und einsetzen, und erkennen, dass damit bessere und tragfähige Entscheidungen möglich werden. Die Welt ist nicht einfach: Zwischen den beiden extremen Alternativen "Ja" und "Nein" gibt es viele Nuancen, die sich bewußt zu machen und zu nutzen, zu besseren Ergebnissen führt. Das Systemische Konsensieren ist dabei ein wertvolles Instrument. Wir werden darüber weiter berichten.

Für die, die jetzt schon mehr wollen, haben wir im Text einige Links zu interessanten und wichtigen anderen Beiträgen und Websites eingebaut. Wer sich für eine Ausbildung in SK interessiert, findet dazu unten ein Link.

 

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