Von der Gier und der Verlockung

Kampfkunst und Führen in Konfliktsituationen

Sabine S., aus der Mitte Ihrer Managerkollegen zu deren Führungskraft erhoben, stand vor einem Problem. Einer der früheren Kollegen, Marc B., fühlte sich durch ihre Beförderung übergangen und machte ihr, seiner jetzt neuen Vorgesetzten, das Leben schwer. Marc wählte den versteckten, hinterlistigen Kampf: Er war vordergründig freundlich, unterstützend und zugetan. Vor Kollegen stellte er allerdings Sabine in Frage und versuchte ihre Kompetenz zu untergraben.

Sabine bemühte sich im Gespräch unter vier Augen den sich anbahnenden Konflikt zu verhindern. Marc blieb freundlich und verbindlich, hatte aber mit all diesen „zufälligen Interpretationen“ nichts zu tun. Hinter ihrem Rücken agierte er jedoch weiterhin intrigant. Sabine suchte Unterstützung und Rat bei ihrem Vorgesetzten. Weil Marc aber erfolgreich war, hatte er eine starke Position im Unternehmen und schien unantastbar. Er spielte seine Spiele und schien keine Folgen zu fürchten. Dies verunsicherte Sabine zunehmend, weshalb sie begann, ihre Wahrnehmung in Frage zu stellen. Dadurch hatte sie nicht den Biss, den Konflikt schon im Ansatz aufzugreifen und zu einer Lösung zu führen. So endeten die Gespräche auch mit keinem konstruktiven Ergebnis. Das Klima im Management verschlechterte sich. Die scheinbare Führungsschwäche von Sabine sowie die unterschiedlichen Meinungen zu Marc’s Verhalten spalteten das Management. Dies wirkte sich eklatant sowohl auf das gesamte Arbeitsklima als auch auf die Ergebnisse der Gruppe aus. Keine der Parteien war bereit, ein Haarbreit von den eigenen Positionen abzuweichen. Es gab weder die emotionale Klarheit noch das Wissen, um in einem solchen Konflikt eine konstruktive Lösung herbeizuführen.

Ein Einzelfall?

Solche Zustände begegnen uns täglich in unserem Unternehmen. Wir wissen keine besseren Lösungen, haben keine Zeit solche zu finden und hoffen darauf, dass die Zeit die Lösungen bringt.

Ich begegne immer wieder Klienten, die sich durch ihren eigenen Anspruch an Perfektion oder ihre Profilierungssucht dermaßen anstacheln lassen, dass sie den Kontakt zu sich und ihrer Mitwelt verlieren. Getrieben von inhaltlichen, zeitlichen und sozial hohen Anforderungen sind sie mit deren Erfüllung hoffnungslos überfordert. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, zur Ruhe zu kommen und sich abzugrenzen, schrumpft ihre Handlungsfähigkeit. Die Arbeit wird für sie selbst, aber auch für ihre Mitarbeiter und Kollegen zur Hölle. 85 Prozent aller Führungskräfte leiden unter den Folgen ihrer harten Arbeit, die sich in Symptomen wie Konzentrationsschwäche, Angst, Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Schlafstörungen oder Impotenz äußern können. Sie kümmern sich viel zu wenig um ihre eigene Gesundheit. Freunde sowie Kollegen – und nicht zuletzt die Arbeit – bleiben auf der Strecke. Der Weg zum „Burn out“ ist somit gepflastert mit inneren und äußeren Leichen.

Kasten 1:

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Schon als kleinen Jungen haben mich die asiatischen Kampfkünste fasziniert. Ich wollte in gleicher Weise kämpfen können,  über den angreifenden und verletzenden Worten der anderen stehen und unverwundbar sein.

Mit 17 Jahren erlernte ich Tae Kwon Do. War begeistert von der Beweglichkeit der Kämpfer und der Kraft der Bewegung. Vieles blieb im Mystischen verborgen und selbst als Schwarzgurt glaubte ich noch weniger vom „Weg des Denkens“ (Do) zu wissen als zu Beginn.

Ich suchte weiter und lernte das Herzstück der Kampfkünste aus Shaolin kennen. Prinzipien und Konzepte lehren die Wirkweise des emotionalen- und körperlichen Kampfes. Statt des Besonderen im Äußeren, zählen die vielen kleinen inneren emotionalen wie körperlichen Impulse. Sie ermöglichen es in „aufregenden Zeiten“ innerlich ruhig und gelassen zu sein, den Überblick zu behalten und angemessen zu (re)agieren.

Ich praktiziere seit Jahrzehnten Kampfkunst und machte eine erstaunliche Entdeckung. Herausforderungen, die uns in zwischenmenschlichen Konflikten begegnen, finden sich in der Kampfkunst wieder und werden in konstruktiver Weise gelöst.

Shaolin, die Wiege der Kampfkunst, war bekannt für seine Suche nach dem Einfachen und dem Funktionalen (siehe auch Kasten 2). Diese einfachsten, funktionalsten und erfahrbarsten Ebenen sind unsere Körperlichkeit und unsere Emotionen. In der Kampfkunst von Shaolin gibt es sieben subjektive und sieben objektive Prinzipien (siehe Kasten 3).

An dieser Stelle möchte ich näher auf zwei der subjektiven Prinzipien, die sich gegenseitig gut ergänzen, eingehen: Tam, die Gier und Jau, das Locken.

Die Übung:

Nachdem Sabine ihren Fall geschildert hat, stellen wir diese Situation – gleich einer systemischen Paar-Skulptur – im Raum nach. Ziel dieser Übung ist es, den individuellen Motivationen der einzelnen Personen nachzuspüren und diese aufzudecken. Das fast Mystische, das diesen Skulpturen innewohnt, wirkt. Sabine spürt Marcs Enttäuschung, seinen verletzten Stolz, seine Missgunst und seine Gier. Dabei drängt sich die Gier nach mehr Annerkennung und Macht in den Vordergrund. Sabine stellt sich in ihre eigene Position und bekommt von mir die Anweisung, mit Marcs Gier zu spielen, sie mit Angeboten zu locken, sich schwächer zu zeigen als sie ist. Sie spürt Marcs fixiertes Drängen, kann den inneren Abstand waren, spielerisch mit dieser Kraft umgehen und spürt fast körperlich, wie Marc beginnt, seine innere Basis zu verlieren. Sabine erkennt in diesem Vorgehen, dass ihre vermeintliche Schwächen, nämlich ihr Feingefühl und ihre Berührbarkeit, sich nun als ihre Stärken erweisen. Wohingegen Marcs Stärke unberührbar zu sein, einen innerlich brodelnden See der Unzufriedenheit verbirgt und ihn damit erschütterbar macht. Im Anschluss an diese Analyse erarbeiten wir gemeinsam einen Handlungsplan mit Eskalationsstufen, der Sabine dabei unterstützen wird, eine definitive Klärung der Beziehung zwischen Marc und ihr herbeizuführen.

Kasten 2:

Die Kampfkünste und Shaolin sind eng miteinander verbunden. In der Provinz Henan war der Ursprung für die heute berühmten Shaolin-Klöster, die sich in verschiedenen Regionen Chinas ausbreiteten.

Der Legende nach brachte der buddhistische Mönch Bodhidharma – genannt Tamo – im Jahre 520 n. Chr. „das Spiel der fünf Tiere“ ins Shaolinkloster, um die Mönche durch diese Körperübungen zu stärken. Er lehrte sie die Wichtigkeit von Bewegung und emotionalem Ausgleich für die Gesundheit von Körper, Geist und Seele. Dies, so heißt es, war die Geburtsstunde der Kampfkünste.

Die Mönche studierten das Leben und entdeckten Gesetzmäßigkeiten, Prinzipien und Konzepte, die für alle Bereiche des Lebens gleich funktional, hilfreich oder hinderlich waren. Und zwar solche Prinzipien und Konzepte, die losgelöst von technischen Fertigkeiten als universelles Gesetz für funktionierende Systeme gelten.


Die Lösung:

Sabine lud Marc ein, bestimmte Aufgaben zu übernehmen, deren Erfolg Lob und Anerkennung von höchster Stelle versprachen. Mit der Zeit erweiterte sie die Aufgaben mit der Aussicht auf weitere Wertschätzung und schraubte die Anforderungen höher und höher. Mit diesem Vorgehen forderte sie seine Gier heraus, in dem Bewusstsein, das diese ihn blind und unvorsichtig machen wird. Von seiner Gier nach Erfolg und Annerkennung würde er sich so stark vereinnahmen lassen, dass er den Überblick verlieren und aus dem „Gleichgewicht“ geraten würde.

Kasten 3:

Die subjektiven Prinzipien von Süd Shaolin:

Suche :

Bok

Drängen, Vorwärtsfluss,

ohne mit der Angriffsenergie zu kollidieren

Fok

Abschlußwille, Kontrolle

Jau

Spontaneität, spielerisches/trickreiches Verhalten,

Aufmerksamkeit, Locken

Lau

Zeitgleich Schwachpunkte nutzen

Meide :

Tam

Gier, Wut, Zorn, Anhaftung

Pa

lähmende Angst

Mong

Verwirrung, falsche Idee

 


Die Erkenntnis:

Sind wir so in den Emotionen Gier, Wut und Zorn gefangen (fixiert), dass wir freie Gedanken nicht mehr zulassen können, wirkt das Prinzip „Tam“. Wir arbeiten inneffektiv, sind abgelenkt, zerstreut und verlieren den Blick für wichtige und dringende Themen. Damit büßen wir unsere Klarheiten und unser sicheres Handeln ein.

Fixiert auf einen Punkt verlieren wir den Blick fürs Ganze. Selbst wenn es außen kriselt, wird unsere Aufmerksamkeit zu sehr gebunden.

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Während Techniken uns lediglich befähigen, eine Reaktion auf eine ganz spezifische Aktion von anderen zu zeigen, lehren Prinzipien das prinzipielle Vorgehen bei bestimmten Aktionen, Energien und Emotionen.  In der Konfliktsituation von Sabine und Marc war das Hauptthema die Gier von Marc nach Macht und Anerkennung. Marc agierte demzufolge stark nach dem Prinzip „Tam“. Als Reaktion darauf versuchte Sabine, Marc mit Aktionen, Angeboten, einer veränderten Haltung und ihrer vermeintlichen Führungsschwäche noch weiter in seine Gier zu locken, indem sie das Prinzip „Jau“ verfolgte. Ihr Ziel dabei war, ihn einzuladen, seinen sicheren Hafen zu verlassen, sich aufs Glatteis zu begeben und sich dadurch zu übernehmen.

Was geschehen musste geschah: Die Projekte von Marc kamen in Turbulenzen. Und Marc selbst geriet ebenfalls ins Wanken, weil er nicht nur am Rande seiner Leistungsfähigkeit stand, sondern auch eines seiner Projekte kurz vor dem Scheitern. Sabine S. hatte nun die Wahl, Marc B. bloß zu stellen und „fallen zu lassen“ oder ihn zu stützen und durch Absprachen in eine gemeinsame konstruktive Zusammenarbeit zu bringen. Sie erarbeitete in einem längeren Gespräch mit ihm einen gemeinsamen Weg, den sie mit einem Kontrakt besiegelte. Sabine zeigte Stärke durch ihren Biss, trotz widriger Umstände eine Lösung zu finden. Aufgrund ihrer Klarheit gelang es ihr, Marc zu analysieren und seine Schwäche zu finden. Sie bewies Mut, ihn trotz ihrer eigenen Befürchtungen zum Straucheln zu bringen. Und sie zeigte Größe, ihm ein Angebot zu unterbreiten, das Marc annehmen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Zu guter Letzt erwarb sie sich durch dieses Vorgehen die Anerkennung ihrer Kollegen, denen Sabines Weitsicht und konstruktives Handeln nicht verborgen geblieben war. Der Schwerpunkt unserer weiteren Arbeit lag danach auf dem frühzeitigen Erkennen von Störfaktoren. (siehe Kasten 4)

Kasten 4:

SunTzu in „Die Kunst des Krieges“:

    • Der überragende Befehlshaber durchkreuzt die Pläne des Feindes.
    • Der Zweitbeste macht die feindlichen Bedürfnisse zunichte.
    • Die nächste Stufe ist, die bewaffneten Streitkräfte anzugreifen.
    • Am Schlechtesten ist es, die feindlichen Städte zu belagern.

Auf unseren Führungs-Alltag übertragen:

    • Die wahrhaft gute Führungskraft erkennt und löst Probleme im Ansatz.
    • Die Zweitbeste ersetzt fremde Meinungen mit der Eigenen.
    • Die nächste Stufe ist, den offenen Konflikt zu suchen.
    • Am Schlechtesten ist es, das Problem auszusitzen.

(Sun Tzu lebte vor 2500 Jahren in China und überlieferte wegweisende Schriften zur Kriegsführung)

Sabine erkannte bei Marc die Gier (Prinzip „Tam“) und bewahrte Ruhe. Sie verschaffte sich lockend und täuschend (Prinzip „Jau“) Freiräume, übernahm die Kontrolle sowie die Führung. Doch Vorsicht! Macht verführt und macht selbst gierig nach mehr. …und wer weiß, wer als nächstes „Jau“ nutzt…

Michael Berger

Mehr über den Autor: https://www.trainertreffen.de/index.php?option=com_comprofiler&task=userProfile&user=314&Itemid=149

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