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Bildnerische Methoden (7)

Das Lebenspanorama – biographische Muster auf einen Blick

Sabine Mertens

Wir glauben primär, was wir sehen. In der Hierarchie der Sinne ordnen sich alle anderen Sinne dem Sehsinn nach. Weicht zum Beispiel der körpersprachliche Ausdruck von der Botschaft des gesprochenen Wortes ab, so gibt die visuelle Wahrnehmung dieser Inkongruenz den Ausschlag bei der Einschätzung und Beurteilung einer Situation.

Die Fähigkeit zur Wahrnehmung solcher Abweichungen gehört zur evolutionsbiologisch verankerten Grundausstattung des Menschen, ebenso wie die Fähigkeit zur Übertragung in ästhetische Ausdrucksformen. „Im Verschmieren von zähflüssigem (pastösem) Material, wie etwa Brei oder Spucke, liegen die Ursprünge des Malens und Zeichnens.“1 Kinder durchlaufen gut unterscheidbare Phasen der Selbst- und Welterkundung. Nach dem Schmieren kommt die Kritzelphase, und aus den Kritzelkreisen werden Gegenstände und Objekte des Alltags wie Teller, Autoreifen, Sonne oder Mond. Die markanten Stadien der Malentwicklung verlaufen weltweit bei allen Kindern gleich. Wenn wir also im Coaching unsere Klienten eigenhändig malen und zeichnen lassen, knüpfen wir an diesen universellen frühen Schatz menschlicher Ausdrucksweisen an. Dabei geht es nie um das Endprodukt im Sinne eines Kunstwerkes, oder um ästhetische Kriterien wie Schönheit oder Gefälligkeit.

Handlungsfähig werden

Im Coaching lesen wir die Bildgestaltungen als Ausdruck physischer, neuronaler und emotionaler Prozesse, die einander wechselseitig bedingen und gleichsam unsere Bewusstseinsaktivitäten und Handlungsweisen beeinflussen. Auf diese Art können wir mithilfe von Bildprozessen z.B. Entscheidungen befördern oder auch abgewehrte Ich-Anteile integrieren. Untaugliche Verhaltensweisen der Vergangenheit lassen sich in der Hinsicht verändern, dass wir eine Nachentwicklung anstoßen, indem wir ihre Repräsentanzen – bewusst oder unbewusst ins Bild gesetzte Elemente – neu ordnen und bewerten, und neue Verhaltensweisen ausprobieren. So befreit vom engen Korsett negativer Überzeugungen, abgespeicherter Klischees und Stereotypisierungen erneuern sich die Maler von selbst und erobern neue Handlungsspielräume.

Abgewehrter Ich-Zustand: Nebel

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Abb. 1: Resonanzbild: »Ich im Nebel« (männlich, 32 Jahre, selbstständig)

Das Resonanzbild »Ich im Nebel« ist die Darstellung eines emotionalen Zustands, der mit störenden körperlichen Symptomen wie Abgeschlagenheit/Lethargie einhergeht. Der Zeichner steht unter erheblichem Druck, leidet darunter, dass er „immer leisten und funktionieren“ muss, wobei die gewünschten Erfolge, z.B. in Form von größerer finanzieller Sicherheit, ausbleiben. Er hat sich ins Zentrum des Bildraums gemalt, in Nebel gehüllt, auf einem Hügel stehend. Eigentlich hätte er von da oben einen guten Überblick, aber der Nebel verstellt ihm die Sicht. Das fühlt sich beängstigend, ja lähmend für ihn an. In diesem Zustand erscheint ihm die Zukunft „schleierhaft“.

Bei der Bildbetrachtung fällt ihm auf, dass der Nebel die Figur so eng umhüllt, als gehörten die beiden zusammen. Selbsterkenntnis: Der Nebel ist kein externes Wetterphänomen! Er selbst ist Nebelmacher und Nebel zugleich, letzterer ist (wie in der evolutionsbiologischen Theorie von Junker2 beschrieben) „erweitertes Ich“. Ein weiteres Bild konkretisiert nun das ihm schon lange bekannte, bislang aber unbestimmt gebliebene (weil verleugnete) Gefühl.

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Abb. 2: Resonanzbild: »Standing on the edge« (männlich, 32 Jahre, selbstständig)

Lebensmuster umstrukturieren

Das Nebelgefühl verschleiert immer wieder tieferliegende Gefühle von Hilflosigkeit, Trauer und Einsamkeit in Übergangszeiten und Phasen von Unsicherheit beziehungsweise mangelnder Stabilität im Leben des Zeichners. Im Nebel steckengeblieben, spürt er lediglich seine geringe Stresstoleranz in solchen Lebensphasen. Nachdem er nun nicht mehr versucht, dem Nebel auszuweichen, sondern sich ihm stellt, konkretisiert sich sein Zustand im Bild „Standing on the edge“. Hier zeigen sich auch taugliche Aspekte der schwierigen Übergangsphasen, wie z.B. körperliche Beweglichkeit, Bewegungsrichtungen, und als Symbol der Zuversicht die Sonne im oberen rechten Quadranten. „Auf der Kante“ fühlt er sich zwar angeschlagen und unsicher, ist aber handlungsfähig und unterwegs. Das Sonnensymbol verweist auf eine Zukunft, in der das jetzige Problem überwunden sein wird.

Erkenntnis: eigenhändig gemalte Bilder weisen über sich selbst hinaus, sie halten Entwicklungsprozesse innerhalb von Kontexten fest. Beide – Menschen und ihre Bilder sowie die Kontexte – sind von Natur aus dynamisch und bieten Möglichkeiten für regressive oder progressive Veränderungen. Aus dem Chaos persönlicher Details kristallisiert sich anhand der Bilder die eigene Stellung innerhalb der systemischen Ordnung sozialer Beziehungssysteme heraus.

Abgewehrter Ich-Zustand: Lustlosigkeit

Bei der Aktivierung von Erinnerungen und Verhaltensressourcen spielen Bilder als senso-motorischer Speicher eine Hauptrolle. Falls ein Thema sich durch Nicht-erinnern-Können oder einfach Lustlosigkeit dem Ausdruck entzieht, fordere ich meine Klienten auf, nicht zu lange nachzudenken, sondern einfach die Hand Spuren auf dem Papier machen zu lassen. Dabei kommt dann zum Beispiel ein abstraktes Kritzelbild heraus, wie die folgende Abbildung zeigt.

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Abb. 3: Resonanzbild zu einem unbestimmten Gefühl: »Ent-Schlussstrich« (Frau R)

Die Zeichnerin hatte mit dem Stift auf Papier zunächst langsam und ein wenig lustlos eine mäandernde Suchbewegung in Form einer durchgehenden Linie vollzogen. Während ich diesen kurzen Zeichenvorgang beobachte, nehme ich einen plötzlichen Tempo-, gleich darauf einen energischen Richtungswechsel wahr. Ohne den Stift abzusetzen, hatte die Zeichnerin spontan den Entschluss gefasst, ihre Suchbewegung zu beenden, um eine letzte kraft- und schwungvolle horizontale Linie zu machen. „Einen Schlussstrich ziehen“, kommt mir in den Sinn, und beim Besprechen des Bildes stellt sich heraus, dass die Zeichnerin unbewusst genau das gesucht und im Moment des Wechsels gefunden hatte. So wurde der Entschlussstrich zum „Schlussstrich“. Die Zeichnerin wird sich nicht länger der Tyrannei ihrer Antriebslosigkeit unterwerfen, sondern selbst Verantwortung für ihre Stimmungen übernehmen.

Bilder bewusst verwenden

Wir nehmen nicht nur unentwegt visuelle Reize wahr, sondern bringen auch unablässig selbst Bilder hervor. Wir denken, planen, lernen und sprechen in Bildern. Eigenhändig gemalte Bilder verbinden die Zeichner wie kein anderes Medium mit Licht und Schatten ihrer wiederkehrenden Lebensthemen und ureigenen Geschichten. Wenn wir im Coaching unsere Klienten dazu ermutigen, diese flüchtigen Bilder zu Papier zu bringen, erhalten die Dinge des Lebens eine ganz individuelle Gestalt und ein Prozess kohärenten Denkens kommt in Gang, der den Malern ermöglicht, sich selbst innerhalb eines dynamischen Systems sozialer Beziehungen als kontinuierlich wachsend wahrzunehmen. Derlei ästhetische Selbstpraktiken fördern Selbstreflexion, Affektregulierung und Selbstwirksamkeit.

Literaturempfehlung

  • Sabine Mertens, Wie Zeichnen im Coaching neue Perspektiven eröffnet, Beltz 2014

Die Autorin: Sabine Mertens

ist Kunsttherapeutin und Psychotherapeutin HPG in eigener Praxis in Hamburg. Ihr Schwerpunkt in Diagnostik, Coaching, Training und Supervision ist die systemische Bearbeitung von Klientenzeichnungen. Ihre Leidenschaft ist emotionales Selbstmanagement und die VerFührung ihrer Mitmenschen zur Selbstführung.

Kontakt:

IP Institut für Personalentwicklung
Beratung Coaching Insights MDI®
Sabine Mertens
Behringstr. 28a / Haus 3, D-22765 Hamburg
Tel. 040-39834-154
sabinemertens@t-online.de
www.sabinemertens.com 

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