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30 Fallbeispiele und Problemlösungen für typische Herausforderungen von Nachwuchs-Führungskräfte.

sabine mertens 2013 Sabine Mertens, Coach

Frau P ist eine erfahrene Trainerin mittleren Alters und mit der Vorbereitung eines Seminars für ein mittelständisches Unternehmen ins Stocken geraten. Das Seminar fühlt sich im Verlauf der Vorbereitungen immer mehr wie eine Prüfung für sie an, plötzlich befindet sie sich emotional in Aufruhr, hat eine diffuse Angst entwickelt, die in Arbeitswut und Aufgebrachtheit umgeschlagen ist. Folie über Folie hat sie vorbereitet, wobei sie schon während des Entwerfens weiß, da sie unmöglich alle verwenden kann. Ein Versuch, dem Ausufern Einhalt zu gebieten, indem sie einen Teil der Präsentation weglässt, ist fehlgeschlagen. Sie kommt richtig geladen in die Stunde. Es sind nur noch vier Tage bis zum Seminar, sie ist der Verzweiflung nah und wütend. 

Ein Teil ihrer Wut gilt der Tatsache, dass sie als Profi überhaupt Hilfe in Anspruch nehmen muss, und sie macht gleich von Anfang an klar, dass sie weder therapiert noch beurteilt werden will. Am liebsten wäre ihr, wir würden lediglich das Seminarkonzept durchgehen. Ich registriere vor allem, was dieses Ansinnen über ihre innere Überzeugung sagt. Frau P scheint fest daran zu glauben, dass sie „es“ — was immer es ist, allein schaffen muss. Ihre bedürftige Seite möchte sie sich lieber nicht eingestehen, geschweige denn sie jemand anderem zeigen. Menschen gelangen nicht zufällig zu solchen Überzeugungen. Es muss eine Reihe von Erfahrungen geben, die dazu geführt haben, dass Frau P diese Schlussfolgerung gezogen hat. Unabhängig davon: Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Vorbereitung eines Seminars selbst für Profis jedesmal eine große Herausforderung darstellt. Die genaue Anzahl der Teilnehmer und ihre momentane Verfassung ist meistens unbekannt, ebenso das Maß ihrer Toleranz gegenüber unbekanntem Lernstoff, ihr grundsätzliches Engagement oder der vorherrschende Wissenstand. Viele Faktoren sind absolut unplanbar, und selbst die besten Pläne können nur die Bühne bereiten für das, was dann tatsächlich geschieht. Deshalb muss ein Trainer, Moderator oder Präsentator vor allem eins sein: schlicht und einfach gut drauf, außerdem blitzwach, einfühlsam und reaktionsschnell, denn im Seminar stehen plötzlich nicht mehr die Inhalte im Vordergund, sondern die Person, die diese Inhalte vermittelt. Ein Höchstmaß an Flexibilität und Schwingungsfähigkeit ist also gefordert. Emotionaler Aufruhr oder gar Wut sind da schlecht zu gebrauchen. Sie erhöhen jetzt für Frau P zusammen mit dem wachsenden Zeitdruck den Stress um ein Vielfaches.  

Wenn derlei heftige Zustände scheinbar aus heiterem Himmel auftauchen, haben wir es ausnahmslos mit einem „System verdichteter Erfahrung“ zu tun. 1 „Emotional relevante Erinnerungen sind im Unbewussten nicht mosaikartig als einzelne, isolierte Prägungen gespeichert, sondern in Form von Komplexen, dynamischen Konstellationen.“ 2 Diese Konstellationen teilen ein Grundthema, sagen wir Platzangst. Dieses Thema stellt den gemeinsamen Nenner der in einem System bzw. Komplex gespeicherten Erfahrungen dar. Die damit verbundenen Gefühle und Empfindungen weisen ähnliche Qualitäten auf, sodass wir es in jeder neuen Situation nicht mit einem vereinzelten geschichtslosen Gefühl zu tun haben, sondern mit dem gesamten Komplex der früheren Erfahrungen, ausgelöst durch die jeweils aktuelle Situation. Solche Zustände verursachen bestenfalls starke Unlustgefühle, schlimmstenfalls aber können sie in heftige Krisen münden. Die gute Nachricht: Jedes aktuelle Geschehnis bietet eine Chance, über die emotionalen Qualitäten und Empfindungen das zugrunde liegende Lebensmuster zu erkennen, zu verstehen und sich weiterzuentwickeln, indem die negativen, Wachstum und Entwicklung einschränkenden Inhalte überwunden und bewältigt werden. „Coex-Systeme spielen in unserem psychologischen Leben eine wesentliche Rolle. Sie können die Art und Weise, wie wir uns selbst, unsere Mitmenschen oder die Welt als solche wahrnehmen, beeinflussen. Sie wirken auf unsere Gefühlswelt und unser allgemeines Verhalten. Sie sind die dynamischen Kräfte hinter unseren emotionalen und psychosomatischen Symptomen, unseren Beziehungsproblemen und irrationalen Verhaltensmustern.“ 3

Wut — vitale Energie

Frau P beschreibt, dass ihre Wut immer wieder aufflammt, sobald sie merkt, dass ihr die Zeit bis zum Seminar davonläuft. Wut ist eine äußerst vitale affektive Überreaktion, die allerdings sozial meistens als unakzeptabel angesehen, wegen ihrer potentiellen Destruktivität sogar als beängstigend empfunden wird. Wut ist ein Gegenspieler der Depression. Wer wütend ist, kann nicht depressiv sein. Allerdings kann jemand, der depressiv ist, durchaus wütend sein, drückt seine Wut aber nicht aus. Mich interessiert in diesem Augenblick der Begegnung mit Frau P vordringlich der vitale Aspekt dieser starken Regung, denn er ist eine Resource, auf die wir in ihrer angespannten Lage und in der Kürze der uns verbleibenden Zeit sicher zurückkommen müssen. Ihre ersten Äußerungen sprechen dafür, dass ihre derzeitige Wut verschiedene Aspekte beinhaltet. Momentan scheint nicht nur der bedürftige Anteil von Frau P wütend darüber zu sein, dass sie überhaupt Hilfe in Anspruch nehmen muss; ein anderer Teil der Wut scheint aus der Frustration zu erwachsen, dass überhaupt wieder Angst und übermäßige Gefühlsreaktionen ihr Leben stören. Die Angst scheint unangebracht, ist auf jeden Fall unverhältnismäßig, und vielleicht hatte sie ja geglaubt, sie ein für allemal überwunden und eine gewisse Gelassenheit im Leben erreicht zu haben.

Zuerst lasse ich Frau P die Situation zeichnen, wie sie sie empfindet. Bild eins beantwortet die Frage: Was beschäftigt sie in der jetzigen Situation mit dem Seminar am meisten?

Kernthema Vorher Gewitterwolke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frau P beschreibt ihr Bild so: „Ich habe das Gefühl, als käme unausweichlich ein Gewitter auf mich zu und ich habe keinen Einfluss darauf.“ Rechts oben auf dem Blatt eine runde Kritzelform, „die Gewitterwolke“. Unter der Wolke geht ein Blitz nieder. Ein weiterer Teil ihrer Wut könnte sich auch auf diesen starken, feindlich erlebten Außenreiz beziehen. Von links nach rechts geht eine Figur — Frau P. Mit etwas Abstand weist von der Figur ein Pfeil von links nach rechts. Die beiden Pfeile symbolisieren die starken Energien, die irgendwo im rechten unteren Quadranten aufeinandertreffen werden. Das Gewitter kommt aber nicht auf die Figur zu, sondern die Figur steuert aufs Gewitter zu. Wir sprechen darüber, dass sie selber auch schon „geladen“ ist, bevor das Gewitter überhaupt losgegangen ist. Der Blitzpfeil unter der Wolke und der Pfeil, der von der Figur ausgeht, symbolisieren dieselbe Energieform, der Blitz die Naturgewalt, der Pfeil die emotionale Wucht der Wut. Das Thema Prüfung, von dem Frau P eingangs erzählte, kommt durch die Wolke wieder auf. Die Gewitterwolke repräsentiert das Ereignis Seminar.

Ich und ich

Das Gewitter ist also eine Projektion — die Wolke steht für Frau Ps Befürchtung, dass sie im Seminar negative Rückmeldungen bekommen wird. Das Gewitter kann nur eine Projektion sein, weil sich alle Befürchtungen ja im Kopf von Frau P abspielen. So gehe ich davon aus, dass alle Zeichen und Symbole auf diesem Bild Frau P selbst repräsentieren: die Figur, der Pfeil, die Wolke und der Blitz. Das Bild zeigt das Ausmaß ihrer Energie in ihrer ganzen Ambivalenz, vital, dynamisch, aber auch potentiell destruktiv. Die Aufladung ist im Raum spürbar. Soviel Energie! Um die Heftigkeit der Gefühle und die mit der Situation verbundene Ausichtslosigkeit zu entschärfen, schlage ich einen Zeitsprung vor. Wir schauen aus der unmittelbaren Zukunft zurück: „Wie wird es nach dem Seminar sein, z.B. am Montag?“ So entsteht Bild zwei.

Nachher

Das Bild zeigt in der linken Hälfte ein Päckchen mit Schleife, in der rechten eine Figur, die aus dem Bild herausschaut. Das Päckchen und die Figur haben keine Berührung. „Abgeliefert. Das Seminar ist gelaufen.“

In der Symbolsprache dieses Bildes ist das Seminar ein abgeliefertes Geschenk. Damit hat Frau P jetzt einen selbstwertstärkenden Aspekt sichtbar gemacht, den sie im Verlauf der Vorbereitungen völlig aus dem Blick verloren hatte. Sie hat viel zu geben. Das Seminar als Geschenk zu sehen, versetzt sie emotional in eine positivere Ausgangslage. Das Geschenk ist, anders als Frau Ps ausufernde Vorbereitungen, kompakt, überschaubar. Im Bild hat sie es los- und hinter sich gelaen. Die Figur steht frei in der rechten Bildhälfte, den Blick herausfordernd zurück und leicht nach oben gerichtet.

Während wir über das Paket sprechen, das sie erfolgreich abgeliefert haben wird, stellt sich heraus, dass Frau P schon eine Vorerfahrung mit diesem Kunden hat. So wird klar, dass ihre Befürchtungen sich an einem Funken Realität entzündet haben. Einige Rückmeldungen zum ersten Seminar bei diesem Kunden waren negativ; das Konzept sei nicht erkennbar gewesen, sie sei bei einigen Teilnehmern nicht angekommen. Auf Grund der negativen Rückmeldung hatte sie sich eigentlich schon entschieden, nicht mehr mit diesem Kunden zu arbeiten. Dieser Entschluss hatte es ihr vorübergehend leichter gemacht, mit der selbstwertverzehrenden Rückmeldung zurechtzukommen und sie hatte sich etwas freier gefühlt. Nun hat das Unternehmen aber ein weiteres Seminar in Auftrag gegeben. Danach soll über eine längerfristige Zusammenarbeit entschieden werden.

Diese Hintergrundgeschichte klärt, warum die Zeichnerin das Seminar immer mehr wie eine Prüfung empfinden konnte. Es steht einiges auf dem Spiel: der Auftrag, Folgeaufträge, nicht zuletzt ihr Ruf. Ausgelöst durch diesen Auftrag stellt Frau P sich selbst und ihre Arbeit grundsätzlich in Frage. Das zugrunde liegende Thema zwischen der jetzigen Erfahrung und früheren Erfahrungen ist 'Ablehnung durch eine soziale Gruppe', verbunden mit einem Gefühl der Ohnmacht. Im Verlauf der Besprechung sieht die Zeichnerin ein, dass es wohl eine Trotzreaktion war, diesen Kunden ablehnen zu wollen. Sie entschließt sich nun für das Seminar, will doch lieber ihr bestes geben. Sie sieht den Kunden jetzt in einem anderen Licht, ist ihm gegenüber weniger mitrauisch und kann den neuen Auftrag besser wertschätzen, ihn als Chance sehen. Eine Beurteilung lehnt sie allerdings immer noch kategorisch ab. Die Angst vor Ablehnung ist also noch unvermindert da. Ablehnung hingegen, die sie selbst ausübt, ist eine erlernte Abwehrstrategie zum Selbstschutz. Gut, sich abgrenzen zu können, eine Überlebensfähigkeit, die aber zum Hindernis werden kann.

Ich wundere mich, dass das Unternehmen trotz der angeblich so schlechten Rückmeldungen ein weiteres Seminar machen möchte und frage nochmal genauer nach. Tatsächlich stellt sich heraus, dass die Ablehnung nicht von der breiten Front der Teilnehmer gekommen war, sondern nur von einigen wenigen. Die anderen Teilnehmer waren total begeistert. Diese Begeisterung rückt für Frau P aber erst jetzt durch meine Nachfrage wieder ins Blickfeld. Die wenigen negativen Rückmeldungen hatten eine heftige emotionale Reaktion ausgelöst, welche sich förmlich davorgedrängt und die positiven Resonanzen der Mehrheit der Teilnehmer verdeckt hatte. Aufgrund der Heftigkeit der negativen Gefühlsreaktion war in Frau Ps Erinnerung hauptsächlich ein Gefühl des Misserfolgs hängen geblieben, das sie in der Folge durch ihre innere Ablehnung gegenüber dem Kunden abzuwehren suchte.

Sie erinnert sich jetzt differenzierter an einzelne Rückmeldungen, ihre Wut legt sich etwas, dafür wird sie mitteilsamer. Sie erzählt, dass sie offenbar „polarisierend“ auf die Seminarteilnehmer gewirkt habe. In der Art, wie sie das Wort „polarisierend“ ausspricht, schwingt eine Bedeutung mit. Um herauszufinden, was es damit auf sich hat, frage ich: „Kennen sie das aus anderen Zusammenhängen, passiert ihnen das öfter?“ — Ja, an ihr haben sich „schon früher öfter die Geister geschieden“. Sie fühlte sich dann als Außenseiterin, alleine. Nach Seminaren hatte sie manchmal ein unverhältnismäßig dräuendes Gefühl, als hätte sie die Teilnehmer nicht erreicht... Gefühlsreaktionen, die durch ihre Unverhältnismäßigkeit eine übermäßige Verstrickung mit der erlebten Situation erkennen lassen, weisen immer auf ein CoEx-System hin.

Die bucklige Verwandschaft

Der Erfahrungstyp „Außenseiterin“ markiert eine sich im Leben von Frau P wiederholende Grenzsituation, in der das Ich und die Umwelt sich scheinbar unversöhnlich gegenüber stehen. Gleichzeitig ist er einer der Aspekte ihres In-der-Welt-seins, welcher sie am meisten geprägt hat — eine Art Kräftemessen zwischen dem Ich und der Umwelt. Frau P musste sich im Laufe ihres Lebens die eine oder andere Bresche selber schlagen. So schaffte sie es aus eigener Anstrengung, sich aus einem restriktiven sozialen Umfeld zu emanzipieren und ihren eigenen Weg zu gehen. Wie viele andere, die sich anschickten, die einschränkenden Bedingungen ihrer Herkunft zu überwinden, musste auch sie die Erfahrung machen, dass gesellschaftlicher Aufstieg mit Ablehnung oder gar Ächtung vonseiten des ursprünglichen sozialen Umfeldes verbunden sein kann, von dem man sich zu emanzipieren sucht. Vor diesem Hintergrund prägten sich ihre Erfahrungen zu einem Lebensmuster aus: Frau P geht ihren Weg, stößt auf Ablehnung, die in ihr Wut und Ängste freisetzt, die wiederum auf Ablehnung stoßen. So entsteht eine Art Drehbuch für das Leben, ein Lebensskript4. Nach dem amerikanischen Arzt und Psychiater Eric Berne sind solche Skripte eine Konstruktion der Wirklichkeit, die auf sich wiederholenden Erfahrungen beruht. Welche Schlüsse wir aus früheren Erfahrungen ziehen, resultiert in einer Erwartungshaltung gegenüber zukünftigen Erfahrungen und hält die Wiederholung in Gang, die als wiederkehrendes Muster sichtbar wird. Polarisierung nimmt im Muster von Frau P einen hohen Stellenwert ein. Durch Gegenüberstellung zweier Pole treten deren gegensätzliche Eigenschaften um so deutlicher hervor, was den Fokus auf das Trennende lenkt. Die sozialen Erfahrungen, die unser Hervortreten mit etwas eigenständigem, andersartigem begleiten, verknüpfen sich mit unserem Selbstbild. Sind die Reaktionen des Umfeldes in entwicklungspsychologisch prägenden Phasen positiv, fühlen wir uns bestärkt. Fallen die Reaktionen negativ aus, beeinflussen sie auch unser Selbstbild negativ, bremsen die Entwicklung und können sehr beängstigend sein.

Bild drei liefert die Antwort auf die Frage „Woher kennen sie das?“ Da hinein fließt nun die ganze Wucht der verdichteten, in diesem Fall negativen Lebenserfahrung. "Im Moment sehe ich nichts", sagt Frau P, "nur ein Loch." Sie zeichnet einen Kreis in die Mitte des Blattes.

Loch

Nun weint sie beinahe und möchte das Seminar überhaupt nicht mehr machen. Gleichzeitig ist sie wieder geladen und jetzt auch konkret sauer auf mich, weil ich durch die Frage, woher sie den Zustand kennt, angeblich „ein Defizit aufgegriffen“ habe. Meine Frage sollte ihre Aufmerksamkeit aber nicht auf ein Defizit lenken, sondern das allzu Offensichtliche ansprechen, das wahrzunehmen ihr nicht gelang, weil sie emotional zu sehr verstrickt war. Dinge direkt anzusprechen klingt oft unvermittelt und hart, ist aber in einer Krisensituation unausweichlich und wirkt befreiend, so als würde man einen von einer Schlingpflanze gefangenen Ertrinkenden retten, indem man mit einem scharfen Messer den entscheidenden Schnitt macht.

Frau P hatte das Thema, das jetzt durch „das Loch“ sichtbar wird, noch nicht überwunden, sondern es vielmehr tabuisiert. Dieses Loch repräsentiert Lebensphasen, in denen sie sich extrem niedergeschlagen fühlte. Dass es jetzt wieder aufkommt, ist wie die erneute Kampfansage eines Gegners, dem sie eigentlich nicht mehr begegnen wollte. Ein Tabu anzusprechen heißt für mich, die negativen Projektionen aushalten zu müssen, die ich damit auslöse. Viele andere Klienten fallen mir ein, die ihre Depressivität durch Metaphern wie Löcher, Schächte und andere Formen von Abgründen ausdrückten, immer begleitet von der Angst, in diese hineinzustürzen. Derlei tiefe Gemütszustände können eine beängstigende Sogwirkung bis hin zu einer schweren Krise entwickeln, sodass Abwehr eine häufige und verständliche Reaktion ist. Solche Zustände langfristig zu leugnen oder abzuwehren heißt aber, ihnen unterschwellig mehr Raum zu geben und das negative Skript fortzuschreiben.

Wenn man sich gerade einer Aufgabe widmet, die man normalerweise mühelos, ja mit Freude und Spaß bewältigt, ist das natürlich der denkbar schlechteste Zeitpunkt für eine depressive Verstimmung. Eine weitere Runde Aggressivität und Trotz schlägt mir von Frau P entgegen, sie wirft mir erneut vor, dass ich auf das Negative fokussiere anstatt auf ihre Ressourcen, indem ich sie dieses Loch habe zeichnen lassen. Im nächsten Moment zeichnet sie eine Gitterstruktur über das Loch. Das Gitter kann sowohl eine Abwehrhaltung gegen das Loch und den symbolisierten Gefühlszustand darstellen als auch eine Bewältigungsstrategie. Das Loch wird nicht ganz zugedeckt, sondern überbrückt. Als nächstes will ich wissen, wie sie bisher mit diesen Zuständen umgegangen ist.

Regression im Dienste des Ich — und dann?

Bild vier zeigt einen „Faradaykäfig“. (Handschrift zum Schutz der Privatsphäre entfernt)

Faradeyscher Käfig Kopie

In Krisen hat Frau P sich bisher immer „zurückgezogen“ und konnte sich dadurch gegenüber negativen Einflüssen gut abgrenzen. Auch in diesem Bild erscheint der Blitz wieder, als Zeichen und Symbol. Der Pfeil ist ein Richtungszeichen, das angibt, woher die negative Ladung kommt und wohin sie fließt. Als Symbol steht er für Frau Ps negative Erfahrungen, die als Blitze erscheinen, und offenbart so ihre Konstruktion der Wirklichkeit. Rechts unten auf dem Blatt wiederum ein Pfeil, an dieser Stelle in Kreisform, ein auf sich selbst verweisendes Zeichen.5 Bild vier zeigt, so meint sie, ihre „Hauptressource“: einen Faradaykäfig. Er symbolisiert hier einen schützenden Zufluchtsort, hermetische Abgeschiedenheit. So hat sie es bisher geschafft. Diese Interpretation deutet auf die Bedrohlichkeit und den hohen Stellenwert, den das ganze Thema in ihrem Leben einnimmt. Im Licht der aktuellen Situation sehe ich an dem Käfig noch einen anderen Aspekt: Er ist zwar geeignet, um vorübergehend Deckung zu finden und lässt eine Regression im Dienste des Ich6 zu, wie sie auch Künstler manchmal vollziehen, um ungestört von Außeneinflüssen ein Werk zu vollenden. Dabei wird die Kontrolle der reifen Ich-Funktionen wie z.B. Planung oder Triebsteuerung zugunsten spielerischer Versunkenheit oder kreativen Fließens vorübergehend vermindert oder aufgegeben. Im Zusammenhang mit der anstehenden Aufgabe, ein Seminar durchzuführen, vermisse ich aber eine Öffnung, die den Kontakt mit der Umwelt ermöglicht und Frau P in die Lage versetzt, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Der Käfig als Ressource erlaubt Frau P, sich zu schützen, zurückzuziehen, sich abzugrenzen, sogar sich fortzubewegen (er hat zwei Räder). Wie auch ein Eremit wäre sie darin langfristig überlebensfähig. Aber was würden die Seminarteilnehmer davon halten, wenn sie aus diesem zurückgezogenen, ja regredierten Zustand heraus das Seminar hielte? Vor dem Hintergrund dieser Frage biete ich ihr an, stellvertretend für sich selbst eine Inszenariofigur7 ins Bild zu stellen und frage, wie denn das Seminar aus dieser Position heraus ablaufen würde. Dadurch kann die Zeichnerin die defensive Komponente dieser Postion spüren. Für das Seminar muss sie zugunsten von mehr Spielraum und der Möglichkeit, mit den Seminarteilnehmern in Kontakt zu treten, den schützenden Käfig verlassen.

Was fehlt? Oder auch: ein Königreich für eine Struktur

Bild fünf zeigt, was wirklich fehlt. Es bringt Freude und plötzliche Erkenntnis.

Was fehlt

Das Geschenkpaket ist wieder da. Es symbolisiert hier nicht nur Frau Ps Seminar, sondern den gesamten Erfahrungsschatz, den sie durch ihre Arbeit mit anderen teilt. Auf diesem Bild entfaltet ein einzelnes Modul ihres Konzeptes seine Strahlkraft als Sonne. Ein Pfeil weist auf die Sonne hin. So könnte man den Eindruck haben, sie wäre aus dem Paket aufgestiegen. Die Sonne ist wie ein Glanzlicht ihrer Methode. Damit hat sie sich gleichsam eine Handlungsanleitung gegeben: „Stelle einzelne Module vor und rücke sie ins beste Licht!“ Ihre gesamte Methode auf einmal vermitteln zu wollen ist unmöglich und wäre auch nicht sinnvoll. Obwohl es ihr sicher gelingen wird, die komplexen Sachverhalte auf wesentliche Elemente zu reduzieren, brauchen die Seminarteilnehmer Zeit für die Aufnahme und Erprobung der Inhalte. Die modulare Vermittlung ermöglicht nun, nicht nur den bevorstehenden ersten Seminartag zu strukturieren, sondern ihr Material in mehrere sinnvolle Abschnitte aufzuteilen, aus denen sich weitere Seminartage ergeben. Als nächstes wird sie eine schriftliche Planung machen, in der sie den einzelnen Themen praktische Übungen und Zeitabschnitte zuordnet. Aus der Fülle des Materials, das sie entwickelt hat, kann sie sich nun bedienen, einzelne Themen herausgreifen.

Da ich im Bild keine Protagonistin entdecken kann, bitte ich Frau P, auch in dieses Bild wieder eine Inszenariofigur hineinzustellen, die sie selbst repräsentieren soll. Sie stellt 'sich' in den linken oberen Quadranten,8 womit sie bestätigt, dass nicht mehr sie selbst und ihr Problem im Mittelpunkt stehen, sondern die Aufgabe, ihr Seminar durchzuführen. Von dort oben kann sie jetzt ganz gelassen die Vogelperspektive genießen. Die Seminarstruktur, die sie im Bild links durch die vielen Gedankenstriche angedeutet hat, wirkt jetzt wie eine Himmelsleiter.

Nichts, aber auch gar nichts Redundantes gibt es in einem Bild. Beflügelt von diesen Erkenntnissen schaut sie jetzt nochmal auf das „Krisenbild“, das Loch mit der Gitterstruktur, und bewertet das Gitter im Sinne einer Bewältigungsstrategie. „Es ist ja flexibel, wie ein Trampolin, auf dem ich rumhüpfen kann!“

Zum Abschluss der Stunde meint sie, dass sie jetzt erst mal mit Bild vier weitermachen will, wo sie nachträglich ein paar Worte notiert hat: eine klare Tagesstruktur wird sie vorgeben mit dem Ziel, den Teilnehmern konkrete Werkzeuge mitzugeben, die sie selber in der Zeit zwischen den Seminaren ausprobieren können. Sie will also nochmal in den Faradaykäfig, will nochmal in Klausur gehen. Daran zeigt sich wieder der Ressourcencharakter des Käfigs. Zurückgezogen, abgeschottet von Außeneinflüssen kann sie nachdenken und in Ruhe ihre Päckchen schnüren.

Szenenbuch aus abstrakten Zeichen

Betrachten wir die Bilder von Frau P in der Reihe, fallen aus ihrem Zeichenrepertoire besonders die Blitze und Pfeile ins Auge. Sie enthalten eine heftige Dynamik, geben jeweils die Richtung vor und fungieren als emotional stark aufgeladene Bedeutungsträger ihrer „verdichteten Lebenserfahrung“. Sogar in der Selbstdarstellung des Körpers auf Bild Nummer zwei tauchen die Blitze wieder auf: als Arme und Beine. Selbst aus den einzelnen Bildzusammenhängen herausgelöst (siehe die Zeichenfolge Bild sechs) geben diese Zeichen die Geschichte von Frau P immer noch sinnvoll und folgerichtig wieder. Gerade in ihrem hohen Abstraktionsgrad spiegeln sie die Vitalität und Kraft wieder, mit der Frau P die Herausforderungen ihres Lebens gemeistert hat. Die Bewegungsdynamik der Pfeile ist entwicklungsorientiert, wo sie von links nach rechts verlaufen und konZENtrisch in dem auf sich selbst verweisenden Pfeilkreis. Von oben nach unten verweisen sie in Richtung Erde und Unbewusstes. Chronologisch gesehen, in der Abfolge ihres Entstehens, können wir die Bilder wie ein Szenenbuch lesen. Der erste Pfeil verläuft horizontal von links nach rechts. „Es war einmal...“, eine Entwicklung, ein Weg, eine Richtung in die Zukunft wird aufgezeigt, eine Geschichte beginnt. Die weiteren Pfeile verlaufen vertikal von oben nach unten, schlagen quer zur Entwicklungsrichtung ein. Sie symbolisieren Herausforderungen oder als bedrohlich empfundene Ereignie . Als nächstes sehen wir eine runde Pfeilform, ein Kreis entsteht durch Bewegung nach rechts, eine Beschäftigung mit sich selbst, ein In-sich-gehen der Zeichnerin. Die letzten drei Pfeile ergeben zusammen eine sich öffnende dynamische Form. Zwei der Pfeile weisen nach unten, Richtung Erde. Da wir es symbolisch mit so starken Energieformen wie Blitzen zu tun haben, erscheint Erdung als naheliegende Assoziation. Blitzableiter, die Energie ist in die Erde umgeleitet. Der dritte Pfeil weist nach oben links, Richtung Sonne und Mitte, wo raumsymbolisch platziert ist, was aktuell ansteht. Im Hier und Jetzt liegt die Lösung und strahlt. Der Stoff, für den die Pfeile stehen, ist jeweils derselbe: reine Lebensenergie. Etwas kreisförmiges haftet allen drei Pfeilen an, ich möchte sagen: noch, so als hätte sich diese Form unmittelbar aus dem Kreis ergeben. Und das hat sie ja auch.

Und der Sieger ist: das kraftvolle Selbst

Nach dem Termin sagt Frau P: "Ich bin froh, dass ich gekommen bin und dass sie mich ausgehalten haben!" und räumt etwas erschöpft ein: "Es ist nicht leicht, sich so mies drauf und verletzlich zu zeigen!" Das Coaching hat sich gelohnt: Frau P hat ihr Lebensmuster wiedererkannt und angenommen — das Kräftemessen der „Außenseiterin“ mit einer ablehnenden Umwelt, das in ihrem Leben zu Misstrauen und Überempfindlichkeit gegenüber Kritik geführt hatte. Anstatt den alten Kampf weiterzuführen, machte sie sich ein Bild von ihren Gefühlen, genauer gesagt fünf Bilder, bekam ihre Gefühle in den Griff und konnte die problematische Situation überwinden. Sie hat jetzt richtig Lust auf das Seminar. Zwei Tage später ist sie guter Dinge. Sie schreibt mir, dass sie die Vorbereitungen abgeschlossen hat und den letzten Tag vor dem Seminar zur Entspannung und Ablenkung nutzt. In der Woche nach dem Seminar meldet sie mir zurück, dass das Seminar sehr gut gelaufen sei. Zwei Wochen später bucht der Kunde das nächste Seminar. Weder vor dieser Doppelstunde noch nachher habe ich Frau P je (wieder-)gesehen — keine Nachrichten sind gute Nachrichten, denke ich.

Zum Trainer-Profil der Autorin...

1 Stanislav Grof, Die Psychologie der Zukunft, Erfahrungen der modernen Bewusstseinsforschung (Co-Ex System: condensed experience)

2 Ebda, S. 37

3Ebda, S. 39

4Eric Berne, „Was sagen Sie, nachdem Sie » Guten Tag « gesagt haben ? — Psychologie des menschlichen Verhaltens“

5Zum Begriff 'Selbstreferentialität' siehe auch Humberto Maturana, Niklas Luhmann

6Ernst Kris, Kunsthistoriker und Psychoanalytiker

7Holzfiguren als Visualisierungshilfen, siehe auch „Handbuch für praktische Anwendungen im Berateralltag mit Inszenario: „begreifbar visualisieren, stimmig kommunizieren mit Inszenario®, Dipl.-Psychologe Gunter König, Herausgegeben von OWB, Oberschwäbische Werkstätten für Behinderte gem. GmbH

8Susan Bach (1995): Die vier Quadranten in: Das Leben malt seine eigene Wahrheit. Über die Bedeutung spontaner Malereien schwerkranker Kinder

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